Offener Brief zum Krieg in der Ukraine
Ein Wort für Christen – Kirchen – christliche Gemeinschaften von Marin Bühlmann
Gedanken zum Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine
Mit diesem Artikel möchte ich auf eine häufig sichtbare Positionierung von Christen und von christlichen Kirchen zum Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine aufmerksam machen.
Die praktische Solidarität in den Bereichen von Gebetsbereitschaft, Spendenfreudigkeit, Unterstützung von Flüchtenden, Bereitschaft Flüchtende aufzunehmen und Herz zu teilen ist begeisternd und berührend. Da wird die Kirche Jesu Christi in ihrer schönsten Weise sichtbar. Der Auftrag nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes zu suchen, wird in beeindruckender Weise wahrgenommen.
Ich empfinde jedoch zutiefst, dass es auf der anderen Seite an klarer Stellungnahme gegen Putin und sein faschistisches System fehlt. Ich war auf unzähligen Websites christlicher Kirchen, Gemeinden und Organisationen und fand dort kaum offensichtliche Proteste oder Protestaufrufe gegen das Handeln von Putin. Da werden die Gastlichkeit von christlichen Gemeinden beschrieben, wunderschöne Programme und Gottesdienste angepriesen, es wird Werbung für einen gemeinschaftlichen Urlaub gemacht. Dazu werden auf den meisten christlichen Websites Aufrufe für Solidarität und praktische Hilfe und Spenden gemacht. Wo aber sind die Bonhoeffer im 21. Jahrhundert? Eine löbliche Ausnahme ist Papst Franziskus, der sich klar äußert. Ich bin auch dankbar für die klare Stellungnahme von Rainhard Wedeleit, Mitglied der Bewegungsleitung Vineyard Deutschland, Österreich, Schweiz auf der Website http://www.vineyard-dach.net.
Die spürbare Zurückhaltung erinnert mich an die Reaktion der meisten Christen unter Mussolini, Franco und Hitler und anderer Diktatoren. Die Christen arrangieren sich und versuchen dann eher abzutauchen. Gefeiert werden dann, so wie jetzt die ungefähr zwei Dutzend Pastoren in Russland, die mit einem Brief öffentlich gegen den Krieg von Putin aufstehen oder die Leitung der evangelischen Allianz Russland, die sich klar äussert und sich selbst in eine bedrohliche Situation bringen.
Die Frage lautet: Wie sieht Jesus Christus dieses weit verbreitete Schweigen vieler Christen, Kirchen und von christlichen Gemeinschaften?
Wo sind die Bonhoeffer des 21. Jahrhundert?
Von den Schweigenden höre ich oft Aussagen wie: «es handelt sich um einen geistlichen Kampf, den wir nur geistlich führen können.» «Wir fokussieren auf das Gebet.» Oder ich höre, dass Christen sich nicht politisch äussern sollten. Dies ist in meinen Augen ein Hohn im Blick auf die Kriegsverbrechen von Putin und seiner Clique. Die politische Gleichgültigkeit christlicher Leitender steht – nach meinem Verständnis – in einem absurden Widerspruch zur Botschaft des Reiches Gottes, die von Friede, Freude und Gerechtigkeit spricht.
Doch womit haben wir es mit Putin zu tun? Ist Putin kein Faschist?
Der Faschismus ist eine politische Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Italien entstand. Sie vertrat rechtsextreme, rassistische und fremdenfeindliche Gedanken. Die faschistische Partei übernahm bald nach ihrer Gründung unter dem Einsatz von Gewalt und Terror in Italien die Macht im Staat.
Faschismus sucht die Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Kräfte, insbesondere der Medien und des Bildungssystems, verbunden mit radikaler Ausgrenzung bis hin zur Ermordung aller, die sich dieser Gleichschaltung widersetzen. Es geht um eine nach dem Führerprinzip organisierte, nationalistische, rechtsradikale und antidemokratische Ideologie.
Im Jahr 2004 formulierte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Matthew Lyons folgende Faschismusdefinition: «Faschismus ist eine Form rechtsextremer Ideologie, die die Nation oder Rasse als organische Gemeinschaft, die alle anderen Loyalitäten übersteigt, verherrlicht. Er betont einen Mythos von nationaler oder rassischer Wiedergeburt nach einer Periode des Niedergangs und Zerfalls. Zu diesem Zweck ruft Faschismus nach einer ‚spirituellen Revolution‘ gegen Zeichen des moralischen Niedergangs wie Individualismus und Materialismus und zielt darauf, die organische Gemeinschaft von ‘andersartigen’ Kräften und Gruppen, die sie bedrohen, zu reinigen. Faschismus tendiert dazu, Männlichkeit, Jugend, mystische Einheit und die regenerative Kraft von Gewalt zu verherrlichen. Oft – aber nicht immer – unterstützt er Lehren rassischer Überlegenheit, ethnische Verfolgung, imperialistische Ausdehnung und Völkermord. Faschismus kann gleichzeitig eine Form von Internationalismus annehmen, die entweder auf rassischer oder ideologischer Solidarität über nationale Grenzen hinweg beruht. Normalerweise verschreibt sich Faschismus offener männlicher Vorherrschaft, obwohl er manchmal auch weibliche Solidarität und neue Möglichkeiten für Frauen einer privilegierten Nation oder Rasse unterstützen kann.»
Putin erfüllt beinahe alle diese Beschreibungen. Das sowjetische System ist 1991 gefallen. Die Neuordnung wurde ab 2000 von Putin in die Hand genommen. Er äussert in klaren Worten, dass der Niedergang des sowjetischen Systems die grösste Tragödie des 20. Jahrhunderts war. Er träumt von einem grossen Russland und gibt keine Ruhe, bis er die alten sowjetischen Gebiete wieder Russland eingliedern kann. Neben der Ukraine gehören Moldawien und die baltischen Staaten dazu. Er hat das bereits in den tschetschenischen Kriegen und in der Aggression gegen Georgien unter Beweis gestellt. Nur waren diese Gebiete für Europa noch weit entfernt. Jetzt sind wir mit einem Krieg in Europa konfrontiert.
Es verwundert nicht, dass sich Rechtsparteien im freien Europa anbiedern oder Verständnis für das Handeln Putins haben. Gerne beschuldigen sie den Westen, die EU, die USA und die NATO an dieser Situation schuld zu sein. Zu diesen Parteien gehören die AfD in Deutschland, die LEGA in Italien, der Front National und andere Parteien in Frankreich in starker Weise und weitere Rechtsparteien in anderen europäischen Ländern in abgeschwächter Weise. Sie alle bewundern autokratische Systeme und stellen die Demokratie in stärkerer oder schwächerer Weise in Frage.
Die vom umstrittenen italienischen faschistischen Philosophen und Politiker Giovanni Gentile, angelehnten Dimensionen vom Faschismus lauten: «Führerprinzip, Totalitätsanspruch, eine am Militär orientierte Parteiorganisation, eine irrationale weltliche Ersatzreligion, eine korporative, hierarchische Wirtschaftsorganisation, sowie ein totalitäres, in Funktionshierarchien gegliedertes Gesamtmodell der Gesellschaft.»
Putin entspricht auch da den meisten Beschreibungen.
Wladislaw Inosemzew ist russischer Ökonom und Soziologe. Er schreibt in einem Artikel der NZZ vom 10. März 2022: «Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat – Wladimir Putin ist ein gelehriger Schüler Benito Mussolinis.»
Francis Fukuyama, ein amerikanischer Politikwissenschaftler schreibt: «Wir leben jetzt alle in der Welt von Wladimir Putin, einer Welt, in der schiere Gewalt die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen Rechte mit Füssen tritt.»
Der gegenwärtige Krieg von Putin gegen die Ukraine offenbart sein Denken und seine Ziele in trefflicher Weise. Wenn er die Ukraine einnehmen kann, verfügt er über 1/3 der Weltversorgung mit Getreide. Er spricht offen davon, dass es zum demokratischen, rechtsstaatlichen, werteorientierten Westen eine zweite Kraft braucht. Da ist er sich mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jingping einig.
Es geschehen heute im Krieg gegen die Ukraine Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist ein hemmungsloser Vernichtungskrieg gegen ein demokratisches Land.
Es braucht jetzt die Stimmen, die sich in klarer Weise gegen Putin und seinen Angriffskrieg äussern! Wo sind die Bonhoeffer im 21. Jahrhundert? Weshalb sollten sich Christen wegducken, sich wohl für die Nöte der Menschen einsetzen, aber ihre Stimme nicht erheben? Haben wir vom Faschismus und vom Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts nicht genug gelernt?
Ja, wir wollen uns weiter um die Flüchtenden kümmern, unsere Häuser für sie öffnen. Wir wollen in Fürbitte und Gebet für die Ukraine und auch für russische Soldaten einstehen. Ja, wir erkennen, dass das Reich der Finsternis im Kampf steht mit dem Reich des Lichts, dem Reich Gottes. Wir erheben deshalb in klarster Weise die Stimme gegen Putin und sein Weltbild. Wir distanzieren uns von seinen Worten und Taten öffentlich und verurteilen diese aufs Schärfste. Das sind wir den vielen Opfern von Putin schuldig.
Wie die meisten Menschen fordert auch mich der Krieg emotional sehr heraus. Da suche ich Zuflucht in den Geschichten der Bibel. In diesen Tagen feiern wir das jüdische Purimfest (16./17. März 2022). Es bezieht sich auf die Geschichte des Buches Esther. Mordechai, ein Jude hatte sich Haman, dem höchsten Regierungsvertreter von König Xerxes I widersetzt. Dieser versuchte als Reaktion auf Mordechai alle Juden auszulöschen. Königin Esther konnte aber auf Xerxes I einwirken und das jüdische Volk wurde gerettet. Mich erinnert Haman an Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an Mordechai. Mich ermutigt diese Geschichte Gott zu vertrauen, dass Er für das ukrainische Volk eine Zukunft hat.
Sigriswil, Schweiz, 15. März 2022
Martin Bühlmann
Martin Bühlmann, Leiter Emeritus der Vineyard Bewegung Deutschland, Österreich, Schweiz